Die 6 steht Kopf (oder filmrausch.com goes digital)

17.08.2015 ⋅ Kategorien:

Seit einer Woche habe ich eine Leica M9. Noch nie in meinem Leben war ich so vernünftig unvernünftig. Ich habe immer gesagt, ich steige erst auf die Digitalfotografie um, wenn mir Leica eine Messsucherkamera mit Vollformatsensor anbietet. Deshalb war der Erwerb einer M8 auch nie ein Thema für mich. Na gut, manchmal hab ich für den Bruchteil einer Millisekunde doch darüber nachgedacht, aber nur deswegen, weil sie gegenüber einer gebrauchten M9 ein ganzes Stück günstiger zu haben ist. Aber nicht ohne Grund. Leica hat mit der M8 die Kurve zur digitalen Messsucherfotografie gekriegt und mit der M8.2 nochmal nachgebessert, aber die wirkliche Perfektion kam erst mit der M9.

Was hat sich gegenüber meiner guten alten analogen M6 geändert? Eigentlich nichts. Die eingravierte 6 auf der Deckkappe steht jetzt Kopf und signalisiert, hier geht’s digital zu Werk. Und ich habe jetzt eine Zeitautomatik, wie Leica sie schon erst 2002 der analogen M7 spendiert hatte. Damals™ ging ein Ruck durch die Gemeinde ähnlich wie 1997 Porsche der Käuferschaft ankündigte, den 911 zukünftig nur noch mit Wasserkühlung anzubieten. Shocking! The End is neigh.

Für Leica war das Ende 2002 tatsächlich näher, als man glaubte. Auf der Photokina 2004 präsentierte man sich noch als „Filmdinosaurier“, obwohl der Markt klar Richtung digital zeigte. Zwei Jahre später kam Leica mit der ersten digitalen M, der M8 und alle atmeten auf. Man war also doch ernsthaft daran interessiert, ein Stück Kamerageschichte ins 21. Jahrhundert zu retten, obwohl viele böse Zungen vorher behauptet hatten, das dies – wenn überhaupt – nur mit technischen Unzulänglichkeiten möglich sei. Und so war es auch. Die M8 war voller Unzulänglichkeiten und der Sensor leider zu klein, um das volle Potenzial der Leica-Objektive zu nutzen. Deshalb kam Leica zur nächsten Photokina mit einer verbesserten M8.2, deren Sensor aber immer noch nicht gewachsen war. Es dauerte noch ein weiteres Jahr, bis Leica mit der M9 endlich einen Sensor präsentieren konnte, dessen Fläche der eines Kleinbildfilms entsprach. Der Wandel von analog zu digital war vollzogen. Sela.

Mittlerweile gibt es sogar eine M mit Live-View, Videofunktion, Mikrofon und der Möglichkeit eines elektronischen Aufstecksuchers, der sich ironischerweise wie die alte Krücke aus analogen Zeiten wieder „Visoflex“ nennt. Brauch ich alles nicht; das kann Mimis Sony Alpha 7 besser und günstiger. Ich brauchte eine M, in der lediglich Film durch Sensor und Speicherkarte ersetzt wurde, und das war mit der M9 der Fall. Kein überflüssiger Firlefanz.

Nun steht sie also hier. Der M6 zum Verwechseln ähnlich, stände nicht – wie bereits erwähnt – die 6 Kopf. Erst auf den zweiten Blick fällt auf, dass an der 9 der Spannhebel fehlt und das Gehäuse etwas dicker ist. Ach ja, und dann ist da ja noch ein Display auf der Rückseite. Entwicklungsstand 2009 (oder vielleicht auch früher). Zur Bildbeurteilung eigentlich unbrauchbar, aber für die Einstellung der elektronischen und digitalen Komponenten leider unverzichtbar. Dafür ist das Menü klar und aufgeräumt, kein Schnick-Schnack. Die ISO-Zahl lässt sich bequem über einen eigenen Knopf und das Navigationsrad schnell einstellen. Die Kamera zeigt in der Grundeinstellung jedes gemachte Foto für eine Sekunde im Display zur Beurteilung. Da stellt sich die Frage a) wer beurteilt ein Bild in einer Sekunde auf b) einem derartigen Display? Ich kenne keinen, deshalb habe ich diese Funktion abgeschaltet; verlängert die Akku-Laufzeit. Ich muss ja jetzt auf den Energieverbrauch achten, das war mir mit der M6 fast fremd. Da muss die Batterie lediglich den Belichtungsmesser versorgen und die Batterien halten gefühlt ewig.

Der Blick durch den Sucher ist wie gewohnt eine Wohltat, aber halt! Da leuchtet doch leibhaftig eine Verschlusszeit! Ja richtig, ich sprach ja bereits von dieser ominösen Zeitautomatik, wie sie bereits die M7 hatte, die ich nie liebgewinnen konnte (Zeitautomatik, Teufelswerk! Das ist ja wie ein wassergekühlter Boxer im Porsche 911!). Dabei fotografierte ich bis zum Erwerb meiner vollmechanischen Leica M6 im Jahr 2004 fast ausschließlich in diesem Betriebsmodus. Es ist schon erstaunlich, wie man sich Komfort abgewöhnen kann. Dafür funktioniert die M6 aber auch unter extremsten Bedingungen und das sogar ohne Batterien.

Damit ist nun vorbei. Zum Glück hat Leica so viel Feingefühl bewiesen, dass man zum Wechseln des Akkus oder der Speicherkarte wie beim M-Filmwechsel die Bodenplatte mit einem Drehknebel entriegeln und entfernen muss. Ich fühle mich wie zu Hause. Apropos zu Hause? Was geschieht jetzt mit filmrausch.com? Darf ich hier überhaupt Bilder zeigen, die digital entstanden sind? Ich habe oft und lang drüber nachgedacht und bin zum dem Entschluss gekommen „My Home is my Castle“ und ich fühle mich mit der M9 immer noch analog genug, um auch Bilder aus der digitalen M-Welt hier zu zeigen. Letztendlich ist es doch die Einstellung zur Fotografie, ob man analog oder digital ist. Ich bleibe weiterhin (auch digital) analog. Keine Bildkontrolle nach dem Auslösen, ergo kein Löschen. Das Aha-Erlebnis kommt erst auf dem virtuellen Leuchtpult des Bildschirms.

Trotzdem bleibe ich dabei, dass ein gescanntes Dia-Positiv eine andere Ästhetik ausstrahlt als ein rein digital entstandenes Foto. Da mir ja nun beide Varianten zur Verfügung stehen werde ich die beiden ungleichen Geschwister mal gegeneinander antreten lassen und die Ergebnisse hier veröffentlichen. Stay tuned! Es ist noch reichlich Film im Kühlschrank ;-)