Sie nannten ihn Neko

03.12.2016 ⋅ Kategorien:

Nachdem wir im Frühjahr 2008 mit unseren beiden Katzendamen Velvet und Kleo in unser Haus am Stadtrand von Köln gezogen waren dauerte es nicht lange, bis sich in der hiesigen Katzengemeinschaft herumgesprochen hatte, dass Neue im Revier sind. Zuerst kam eine kleine Tigerdame neugierig vorbei und kurz darauf ein kräftiger Tigerkater. Unsere beiden Damen waren wenig begeistert von den Besuchern und reagierten mit Knurren und Fauchen, wenn jemand von den beiden durchs Fenster schaute oder sich gar über die Türschwelle wagte.

Im Spätsommer tauchte ein schüchterner Tuxedo-Kater in unserem Garten auf. Für diejenigen, die nicht wissen, was ein Tuxedo-Kater ist, hier die Erklärung: Der elegante Herrenanzug, der hier landläufig als Smoking bezeichnet wird, heißt in Amerika Tuxedo. Entsprechend nennen die Amerikaner schwarz-weiße Katzen, die von ihrer Fellzeichnung aussehen, als trügen sie einen Smoking, Tuxedo-Cats.

Der Kater wirkte etwas schmächtig und unterernährt, aber gepflegt und da dort, wo es für zwei reicht, meistens auch drei satt werden, bekam der Kater regelmßig eine Portion Katzenfutter ab. So kam er die nächsten Wochen regelmäßig vorbei, blieb aber ziemlich scheu und zurückhaltend.

Als dann der erste Winter kam hörten wir eines Abends ein rhythmisches Quietschen. Da stand der Kater auf den Hinterpfoten vor der Haustür und rieb die Ballen der Vorderpfoten abwechselnd rechts und links an der Glasscheibe. Als ich ihm die Tür öffnete, kam er zaghaft rein und schaute sich vorsichtig um. Nachdem er die Futternäpfe unserer beiden Katzendamen gefunden und geleert hatte, machte ich ihm die Tür auf und schickte ihn wieder nach Hause, denn ich konnte mir nicht vorstellen, dass dieser schöne gepflegte Kater auf der Straße lebt.

Kurze Zeit später quietschte es wieder an der Tür. Ich stand auf und ließ den Kater wieder rein. Er schlich im Haus umher bis er vor der Heizung einen bequemen Schlafplatz gefunden hatte, rollte sich ein, machte die Augen zu und schlief ein. Ich konnte ihn unmöglich vor die Tür setzen.

Am nächsten Morgen sah ich, dass er in beiden Ohren Nummern eintätowiert hatte. Ich rief bei Tasso an und fragte, wem der Kater gehöre und erhielt zur Antwort, dass diese Nummer nicht gemeldet sei. Auch im Tierheim hatte niemand einen schwarz-weißen Kater als vermisst gemeldet. Nachdem er den Tag draußen verbracht hatte stand er abends wieder vor der Tür und vollzog sein Ritual des beidpfötigen Scheibenquietschens. Da wir nicht wussten, wie er heißt, nannten wir ihn nach der japanischen Winke-Katze Maneki Neko, oder kurz Neko.

Später, ich saß auf dem Sofa, sprang er mir auf den Schoß, legte sich hin und schnurrte. Nach einer Weile fielen seine Augen zu und sein Schnurren wurde leiser, bis es fast verstummte. Dann holte er mit einem tiefen Seufzer Luft als ob er zum Ausdruck bringen wollte "Endlich zuhause."

Obwohl unsere beiden Damen keinen sonderlichen Wert auf Herrengesellschaft legten und ihm das auch ganz klar zeigten, blieb Neko bei uns und lebte sich allmählich ein. Allerdings stellten wir auch recht bald fest, dass Neko ein Problem hatte: Er war undicht, will sagen, er markierte. Vorhänge, Zimmertüren, Polstermöbel... alles wurde angepinkelt. Als ich ihn einmal inflagranti erwischte und ihm gehörig die Meinung geigen wollte, machte er sich zitternd und verängstigt ohne Gegenwehr klein. Was hatte der Kater in seinem Leben erlebt, dass er derart panisch reagierte?

Nach drei Monaten, der Frühling stand wieder vor der Tür, erzählte ich einem Nachbarn von unserem Dauergast. "Ach so", sagte er, "das ist Socke. Der wohnte mal in dem blauen Haus ein Stück weiter in der Straße, aber da ist er immer von seinem Bruder Nero verprügelt worden. Danach hat er eine Weile bei einer Dame nebenan gewohnt, bis diese sich eines Tages das Leben nahm. Seitdem lebt er auf der Straße."

Wir gingen zu der Familie in dem besagten blauen Haus um ihnen mitzuteilen, dass Socke seit drei Monaten bei uns wohnt. Dort erfuhren wir dann, dass Socke 2003 mit seinem Bruder Nero dort eingezogen war. Ursprünglich lebten die beiden getrennt bei zwei Familien, die zu der Zeit in dem Haus wohnten. Kurze Zeit später bemerkte der Vater der Familie, wo Nero lebte, dass er allergisch auf Katzen reagiert und bat die andere Familie, den Kater aufzunehmen. Nero zog also eine Etage tiefer zu seinem Bruder Socke und begann, ihm das Leben schwer zu machen. Socke reagierte darauf mit Unsauberkeit und flog deswegen raus. Danach lebte er eine Weile in den angrenzenden Gärten, bis er vorübergehend bei der besagten Dame Unterschlupf fand. Nach ihrem Ableben war er zunächst wieder heimatlos, bis er im Winter 2008 bei uns einzog.

Nun hatten wir also einen undichten Kater. Meine Kollegen, denen ich von unserem Kater erzählte, meinten: "Nennt ihn doch Steuerung-A: Markiert alles". Wir beließen es aber bei dem Namen, den wir ihm gegeben hatten: Neko. Um sein Pinkelproblem in den Griff zu bekommen ließen wir uns alle möglichen Tricks einfallen. Da er meistens nachts raus wollte und auf dem Weg zur Haustür markierte, legten wir ihm abends ein Katzengeschirr an und befestigten die dazugehörige Leine am Fußgelenk. So merkten wir, wenn er nachts wach wurde und begleiteten ihn zur Tür. Und er ließ es sich geduldig gefallen. Überhaupt war Neko ein echter Charmeur und Gentleman, der mit seiner Art jeden um den Finger wickeln konnte. Außerdem war er ein ausgezeichneter Mäusefänger, was ihm den Titel "Chief Mouser to the House" einbrachte.

Auch mit unseren Damen arrangierte er sich, obwohl sie ihn meistens anknurrten und anfauchten. Da stand er souverän drüber. Wenn Fütterungszeit war und jeder seinen gefüllten Fressnapf vor sich stehen hatte, setzte sich Kleo futterneidisch knurrend vor ihn. Er ging dann meistens eine Runde um den Block, während Kleo sein Futter fraß und wenn er wieder zurück kam, fraß er ihren noch vollen Teller leer und den Rest, den Kleo von seinem Futter übrig gelassen hatte, noch dazu.

Manchmal machte er sich einen Spaß daraus, sich heimlich hinter sie zu setzen, während sie fraß, und wenn sie sich dann umdrehte und ihn sah, sprang sie vor Schreck aus dem Stand Rekorddistanzen. Andersrum schlich sich Kleo oft von hinten an Neko heran um ihm am Hintern zu schnüffeln. Wenn er es dann merkte und sich umdrehte, fauchte Kleo ihn an und rannte weg. Er schaute meist nur verständnislos hinterher.

Irgendwann tauchte plötzlich Nero in unserem Garten auf, aber hier war Neko nun der Boss und zeigte seinem Bruder, dass er sich nichts mehr gefallen und schon gar nicht aus dem Paradies vertreiben lässt. Dass wir hinter Neko standen, als er seinen Bruder verscheuchte, bekam er nicht mit und wir ließen ihn in dem Glauben, dass er ihn ganz alleine vertrieben hatte.

Im Sommer 2011 brachte Neko einen Kumpel mit, denn unsere Damen waren ja nur wenig an ihm interessiert. Ein kleiner Tigerkater, schätzungsweise weniger als ein Jahr alt, Bullenklöten. Ein paar Tage vorher hatte Neko ihm noch auf Nachbars Grundstück die Leviten gelesen; naja, eigentlich hatte er nur vor ihm gesessen, während der Kleine schrie und fauchte. Der Tiger war offensichtlich wild geboren und aufgewachsen und weil er noch so klein war, nannten wir ihn Mini-Me. Fortan schlichen die beiden im Doppelpack um die Häuser und Mini-Me blieb regelmäßig zum Essen, aber nur draußen. Anfassen lassen wollte er sich nicht. Ein paar Mal versuchten wir, ihn mit Futter rein zu locken, aber jedes Mal, wenn wir die Tür zumachen wollten, rannte er schnell wieder raus.

Das ging etwas mehr als ein Jahr so, als Mini-Me plötzlich Nekos Schlafkorb, der unter dem Dach vor der Haustür stand, in Beschlag nahm und sich schnurrend streicheln ließ. Wir nahmen uns vor, den Kleinen bei nächster Gelegenheit in die Transportbox zu locken und mit ihm zum Tierarzt zu fahren, aber dazu kam es nicht. Eines Tages war Mini-Me nicht mehr da. Neko kam und ging, aber Mini-Me brachte er nicht mehr mit.

Wochen später stand Mini-Me vor unserer Tür, abgemagert, stumpfes Fell, tränende Augen und laufende Nase. Als ich die Tür aufmachte kam er rein und versuchte die Treppe hoch zu gehen. Auf der Hälfte der Strecke brach er zusammen. Als ich ihn in die Transportbox steckte, hing sein Körper schlaff herunter. Wir fuhren mit ihm in die Tierklinik, wo er ein langwirksames Antibiotikum bekam.

Am nächsten Morgen wollte er wieder raus. In der Hoffnung, dass er nur eine kurze geschäftliche Runde drehen wolle, ließen wir ihn ziehen... und er kam nicht wieder. Erst zwei Wochen später, einen Tag vor Heiligabend, stand er wieder vor der Tür und sah schlimmer aus als beim ersten Mal. Er ging sofort freiwillig in die Transportkiste und schlief dort ein.

Heiligabend fuhren wir ihn wieder in die Tierklinik, wo er über Weihnachten blieb. Als wir ihn nach Weihnachten abholten sagte man uns, dass der kleine FIV-positiv sei. Sein Zustand war dank einiger Infusionen stabil und die Temperatur normal. Wir nahmen ihn mit nach Hause, um ihn weiter aufzupäppeln. Am ersten Tag machte er einen positiven Eindruck; er fraß, ging aufs Klo und schlief ansonsten viel. Am zweiten Tag wurde sein Blick trüb und er fraß kaum noch. Am dritten Tag konnte er sich kaum noch auf den Beinen halten. Als er dann auf dem Boden liegend auch noch unter sich machte, brachten wir ihn zurück in die Tierklinik, wo er noch am gleichen Tag erlöst wurde. Am Sylvestermorgen begrub ich ihn im Garten unter dem großen Walnussbaum.

Nun war Neko wieder der alleinige Kater im Revier. Ungefähr ein Jahr später tauchten zwei neue Katzen bei uns auf, wovon eine vom Fell und der Statur unserem kleinen Mini-Me nicht unähnlich war. Diesmal wurde aber keine Freundschaft geschlossen und Neko vertrieb die beiden auf Nimmerwiedersehen.

Im April 2016 traf es dann Kleo. Zuerst wurde ihr Gang unsicher und als ich nach drei Tagen abends von der Arbeit kam um sie abzuholen und mit ihr zum Tierarzt zu fahren, lag sie im Wohnzimmer auf dem Boden und konnte ihre Hinterbeine nicht mehr bewegen. Wir brachten sie noch am gleichen Abend in die Tierklinik, wo sie am nächsten Morgen in den Computertomographen geschoben wurde. Ein Tumor im Brustkorb war in die Wirbel gewachsen und hatte das Rückenmark geschädigt. Wir nahmen sie wieder mit nach Hause, um uns von ihr zu verabschieden. Am nächsten Tag wurde sie erlöst und nach einer dreitägigen irischen Totenwache mit reichlich Alkohol neben Mini-Me im Garten beigesetzt.

Im Sommer sah ich Neko einige Male unter dem Baum vor Kleos Grab liegen, und obwohl er in der warmen Jahreszeit nachts lieber draußen schlief, verbrachte er viele Nächte im Haus. Auch sein gelegentliches Markieren hörte auf.

Im September 2016 bemerkten wir, dass Neko beim Fressen sabberte. Das hatte er zwar auch schon vorher manchmal getan, wenn ihm in freudiger Erwartung des Fressens das Wasser im Maul zusammenlief, aber nun stimmte eindeutig etwas nicht, da er auch beim Kauen merkwürdige Geräusche machte. Zunächst dachten wir, er hätte was an den Zähnen, aber unsere Tierärztin fühlte einen Knoten unter seiner Zunge und empfahl uns, in die Tierklinik nach Hofheim zu fahren, da diese auf Onkologie spezialisiert sei. Das Ergebnis der Untersuchung war leider niederschmetternd: Neko hatte Krebs unter der Zunge und da der Tumor an dieser Stelle nicht entfernt werden konnte voraussichtlich nur noch wenige Wochen zu leben. Man gab uns ein Medikament mit, das in den USA bereits erfolgreich an Katzen mit Krebs in der Maulhöhle getestet worden ist, aber das Krebswachstum allenfalls nur verlangsamen kann. Dazu kommt, dass die Chance, dass das Medikament anschlägt, bei etwas mehr als 50 Prozent liegt.

Da wir wussten, dass Neko uns bald verlassen wird, machten wir ihm seine letzten Tage so angenehm wie möglich. Normales Katzenfutter zu fressen fiel ihm schwer, deshalb teilten wir uns mit ihm regelmäßig Lammrücken, Lammlachs, gegrillte Hähnchenschenkel, Roast Beef, Räucherlachs, Hähnchenbrust und Meeresfrüchte. Wenn wir aßen saß Neko neben uns am Tisch und bekam seinen Anteil ab. So schafften wir es, wenigstens sein Gewicht konstant zu halten. Für Neko waren es wahre Gourmet-Wochen und auch Knochenjägerin Velvet bekam regelmäßig ihre Knochen zum Abnagen.

Über das Internet nahm ich Kontakt zu einer Onkologin in den USA auf, die einen Kater 741 Tage mit dem Medikament, das wir in Hofheim bekommen hatten, behandelt hatte, bevor er an einem "unrelated issue" verstarb. Das machte uns zwar etwas Hoffnung, aber dieser Fall war eine absolute Ausnahme, weil der Tumor bis auf einen mikroskopischen Rest entfernt werden konnte. Da bei Neko eine Operation nicht möglich war überlegten wir, ob eine Immuntherapie mit dendritischen Zellen den Tumor eventuell in Schach halten oder sogar zurückdrängen könnte. Ich nahm Kontakt zu einem Labor in Osterode auf und nach einigen Telefonaten entschieden wir uns, dass wir die zusätzliche Chance nutzen und eine Therapie mit dendritischen Zellen versuchen um Neko so vielleicht noch etwas Bonus-Zeit zu schenken.

Leider wurde sein Zustand noch bevor der Impfstoff fertig war schlechter und auch nach der Injektion ging es langsam weiter bergab. Selbst Antibiotika und Cortison halfen nur noch bedingt. Dazu kam, dass er aus dem Maul blutete und stetig an Gewicht verlor. Letzten Sonntag konnte er kaum noch Fressen, aber seine Kraft reichte immerhin noch aus, um eine Maus zu fangen. Am Montag fraß er gar nicht mehr. Die letzte Nacht verbrachte er schnurrend in meinem Arm. Sein weißes Fell war blutverschmiert und er hatte Hunger.

Am 29. November 2016 machte Neko seine letzte Runde durch sein Revier, bevor er erlöst wurde. Seine Zunge war mittlerweile hart und unbeweglich, Fressen und Trinken nicht mehr möglich. Nun ruht Neko unter dem Baum neben Kleo und Mini-Me. Und die "Crabby Old Grandma" Velvet ist zum ersten Mal in ihrem Leben allein.

Wir danken Frau Dr. Harms und Frau Dr. Szattelberger, Dr. Kessler in Hofheim, Dr. Grammel in Osterode und Frau Dr. Gina Olmstedt in North Haven, Connecticut. Wir alle haben unser Möglichstes getan und jede Chance genutzt, ihm noch etwas Zeit zu schenken, aber der Krebs war schnell und gemein.

Mach's gut, kleiner Mann. Jetzt kannst Du Dich wieder satt essen, mit Mini-Me durchs Revier streunen und Kleo erschrecken. Die wird sich vielleicht freuen, aber uns wirst Du fehlen.